Das Buch Fera 1 - Die vergessenen Krieger

Fera I 

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Ganz leise, so vorsichtig, wie Karin nur konnte, hob sie ihre Bettdecke hoch und stand auf. Ihr Kater schlief tief und fest weiter. Leise tapste das Mädchen zu seinem Fenster und öffnete es. Sie trug nur ihr blaues Nachthemd. Dort, wo sie hinwollte, brauchte sie keine bestimmte Kleidung.
Barfüßig stieg sie hinaus auf das Vordach und kontrollierte ihre Umgebung. Nichts. Sie war sich sicher, dass hier niemand war und sprang, während sie sich verwandelte, hinunter. Ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, kam sie im Gras auf und lief los. Sie hatte es eilig. Er hatte ihr zwar ziemlich genau gesagt, wo sie hinsollte, doch mehr als heute Nacht hatte er nicht zum Zeitpunkt angegeben.
„Wenn ihm der Zeitpunkt so egal ist, ... kann ich auch nicht zu spät kommen“, dachte sich Anguis und lief durch die dunklen Straßen.
Ihr Zielort, das naturhistorische Museum im dritten Block des Panjoa-Zentrums, lag nicht gerade um die Ecke, sie würde sicher noch einige Zeit unterwegs sein. Es war bereits kurz nach Mitternacht und sie rechnete nicht damit, dass sie vor halb eins dort sein würde.
„Hoffentlich weiß er das zu würdigen! Ich kann nicht fliegen!!“, zischte sie und lief, so schnell sie konnte.
Die Puste ging ihr nicht aus. Der Körper der Kriegerin schien dieses hohe Tempo lange durchhalten zu können. Und tatsächlich: Als sie ankam, fühlte sie sich nicht im Geringsten erschöpft. Schon nach zwei, drei langsamen Schritten hatte sich auch ihr Atem beruhigt.
„Du hast ja lange auf dich warten lassen. Du wohnst wohl nicht gerade in der Gegend?“, fragte Aquila, als die Schlangenkriegerin von einem gegenüberliegenden Dach auf das Dach des Museums sprang.
„Und du wohnst wohl alleine, wenn dir die Zeit egal ist“, antwortete Anguis lächelnd mit einer Gegenfrage.
Der Vogelmann schmunzelte über die Antwort. Es gefiel ihm, dass sie nicht einfach so antwortete.
„Also, was gibt es, dass du mich hierher bestellst? Ich hoffe, es ist wichtig“, meinte das Schlangenwesen und lehnte sich gegen die Mauer des Treppenabgangs.
Sie schien beinahe von dem Schatten verschluckt zu werden, nur ihre Umrisse waren noch zu erahnen. Anguis wollte es nicht zugeben, aber ihr Herz klopfte wie wild. Sie war so furchtbar aufgeregt. Ein geheimes Treffen mit Aquila war Wahnsinn! ... Wahnsinnig schön oder wahnsinnig dämlich? ... Was wollte er von ihr? Diese Frage hatte sie sich auf dem Weg hierher unzählige Male gestellt. Wollte er nur mit ihr reden? Sie besser kennen lernen? Ihr sein wahres Gesicht anvertrauen?? Oder sie nur aushorchen ... oder sogar dazu zwingen ihre wahre Identität preiszugeben? Anguis zweifelte nicht daran, dass er in einem Kampf gegen sie die besseren Chancen hatte, zu gewinnen. Er war erfahrener und kräftiger als sie.
„Woran denke ich da bitte?? Das ist Aquila!! Er würde mir nie etwas antun! Er gehört zu den Guten!“, schimpfte Anguis in Gedanken stumm mit sich selbst.
Da der Vogelkrieger nur nachdenklich zu Boden sah, fragte das Schlangenmädchen langsam: „Alles O.K.?“
Als hätte er nur auf diese Frage gewartet, hob er den Blick und sagte kaum hörbar leise: „Ich weiß, wo die entführten Kinder sind.“
Erstaunt musterte die hochgewachsene Fera-Kriegerin den Vogelmann. Was bezweckte er mit diesem Treffen?
„Und ... warum sind sie dann noch immer in den Händen der Entführer?“, fragte Anguis ebenfalls mit gesenkter Stimme.
„Du meinst ... warum ich sie noch nicht befreit habe? Die Entführer hatten bereits früher einmal das Vergnügen mit mir. Sie wissen, dass ich Flügel habe. Sie haben sich in die Kanalisation im östlichen Bereich dieses Zentrums zurückgezogen, wohl wissend, dass ich mit meinen Flügeln da nicht hinein kann. Es sind enge Gänge und niedrige Röhren“, erklärte er schnell.
„Dann hättest du es doch der Polizei sagen können!!!“, donnerte Anguis außer sich.
Aquila hob seinen Blick schlagartig, seine gewaltigen Flügel entfalteten sich drohend und er sah sie strafend an. Als hätte er nicht selbst daran gedacht!
„Der Polizeiposten wird entweder abgehört oder sie haben einen der Polizisten gekauft. Aus irgendeinem Grund wissen die Entführer alles, was die Polizei weiß. Die wären schneller mit den Kindern weg, als die Polizei aufgestanden!!! Der einzige Grund, warum ich noch immer sicher sagen kann, dass die Entführer in der Kanalisation sind, ist, dass die Polizei nichts gegen die Entführer in der Hand hat und keine Ahnung hat, wo sie mit dem Suchen anfangen soll!“, fauchte er wütend über ihre Naivität.
Die Schlangenkriegerin zuckte bei dem rauen Ton zusammen.
„Entschuldige, das wusste ich nicht“, murmelte sie mit gesenktem Blick.
Aquila atmete tief durch und meinte wieder ruhig: „Jetzt weißt du es. Ihr könnt ja die Kinder befreien.“
Mit diesen Worten drehte er sich kopfschüttelnd um und wollte vom Dach wegspringen.
Doch Anguis hielt ihn mit der Frage zurück: „Seit wann weißt du es schon? ... Das mit den Kindern?“
„Unwichtig. ... Aber ich wollte dich nicht alleine runter in die Kanalisation schicken. Das da unten ist ein Labyrinth und die Pferdekriegerin hättest du nicht mitnehmen können, da unten ist es eng und glitschig. Außerdem wären ihre Hufe in der ganzen Kanalisation zu hören und hätten euch verraten. Aber ... die Tigerkriegerin scheint dafür bestens geeignet. Mit ihr an deiner Seite wirst du dich nicht verlaufen“, erklärte er und sprang in die Dunkelheit der Nacht, wo er binnen kurzer Zeit verschwunden war.
Anguis atmete tief durch und ging dann ebenfalls.

Fera II

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„Celer“, fragte Anschela am Abend und drehte sich in ihrem Bett herum, „warum können wir den Serpens nicht fragen, ob er zu uns gehört?“
Der graue Kater, der auf ihrem Bett lag, sah sie müde an, streckte sich und murmelte: „Weil er es nicht tut … so einfach.“
„Aber du hast dich auch bei meinem Papa geirrt“, gab das blonde Mädchen zu bedenken.
Das Tier warf ihr strafende Blicke zu und meinte: „Ich habe mich nicht in ihm geirrt. Er gehörte nicht zum Fera-Team! Woher hätte ich wissen sollen, dass er ein Prinz des Firmaments ist? Niemand hat mir gesagt, dass die Prinzessin des Lebens Geschwister hat. Schlaf jetzt. Es ist schon spät und du musst morgen wieder zur Schule. Auch Krieger müssen zur Schule.“
„Aber er hat versucht die Kinder zu beschützen!“, versuchte es Anschela weiter.
Das Tier atmete tief durch und murmelte: „Anschela, wir wissen, was du glaubst gesehen zu haben. Aber ich halte es für wesentlich wahrscheinlicher, dass er genauso unser Feind ist wie diese haarigen Monster. Vielleicht ein Konkurrenzkampf unter unseren Feinden … oder vielleicht … Fera sei uns gnädig, haben wir zwei Feinde zur selben Zeit die hinter demselben her sind. Das wäre furchtbar, aber möglich.“
Der Kater sah das blonde Mädchen entgeistert an. Er schien bereits den Weltuntergang vorherzusehen.
„Aber er hat den Kindern nichts getan. Er hat Christin zurückgelassen“, brummte sie beleidigt und hob ihr Stubsnäschen.
Der Kater schüttelte den Kopf, legte sich wieder hin, schloss die Augen und flüsterte leise: „Wenn wir Glück haben, dann ist er nicht ganz so skrupellos wie die haarigen Monster. Was ihn aber nicht weniger zu unserem Feind macht.“
Anschela verzog zwar ihr Gesicht, knuddelte dann aber ihren Kater und flüsterte: „Du bist sooo süß!“
Celer stöhnte auf und murrte: „Danke, das weiß ich. Damit stimmst du mich nicht um. Er ist ein Feind, basta! Wenn du nicht schlafen kannst, dann lass zumindest mich es versuchen.“
Das blonde Mädchen lächelte und streichelte den Kater, bis er wieder tief und fest zu ihren Beinen schlief. Anschela atmete tief durch, warf noch einmal einen kurzen Blick zum Fenster, der Wind rief nach ihr, und hielt inne. Mit großen Augen ging sie zu ihrem Schreibtisch und sah gebannt beim Fenster hinaus. Im Nachbarhaus brannte rotes Licht im Kinderzimmer und das Fenster war trotz der Kälte offen.
Anschela warf einen Blick über ihre Schulter, Celer schlief und die Neugierde juckte sie unter den Fingernägeln. Sie nahm ihre Haarspange vom Nachtkästchen, steckte sie sich ins Haar und verwandelte sich in Columba. Hellblaues Licht legte sich für einen Moment auf ihre Haut und gab sie sofort wieder als Vogelkriegerin frei. Ihre Haut fühlte sich glatter an, ihr Körper leichter. Ihre Augen machten mehr in der Dunkelheit aus, die Finsternis konnte nicht mehr alles vor ihr verbergen.
Leise öffnete sie das Fenster, der Wind war sofort an ihrer Seite. Geschickt kletterte sie, ohne etwas mit ihren klauenartigen Füßen zu beschädigen, auf das Fensterbrett und sprang furchtlos hinaus in die Dunkelheit. Der Wind fing sich unter ihren weißen Flügeln und trug sie bis vor das Fenster des Kinderzimmers im ersten Stock. Vorsichtig hielt sie sich am Fensterbrett fest und beugte sich etwas in das Zimmer, um zum Bett des Kindes zu sehen. Columbas Augen weiteten sich, als sie neben dem Bett des Jungens den unbekannten Krieger stehen sah. Er hatte sich weit über den Jungen gebeugt und hielt seine Hand gegen die Stirn des Kindes. War etwa er der verrückte Einbrecher? Raul schien tief und fest zu schlafen und keine Schmerzen zu haben. Dennoch genügte es Columba. Was auch immer Serpens tat, es glich zu sehr dem, was Neco mit ihr getan hatte.
Noch bevor sie entscheiden konnte, was sie nun tun sollte, wirbelte der unbekannte junge Krieger herum, sprang aus dem Fenster und warf sie mit sich zu Boden.
Columba war vor Schreck wie gelähmt und der Aufprall presste jede Luft aus ihren Lungen. Mit weit aufgerissenen Augen, am ganzen Leib zitternd, starrte sie den unbekannten Krieger an und bemerkte, dass von seinen Wunden nichts mehr zu sehen war.
Serpens musterte sie ebenfalls und an seinem Blick war zu erkennen, dass er nicht recht wusste, was er mit ihr machen sollte.
„Wer oder was bist du?“, fragte er dann im Flüsterton und drückte sie noch fester zu Boden.
„Columba … ich bin eine Fera-Kriegerin“, presste das Vogelwesen ängstlich heraus.
„Eine was?“, verlangte er zischend zu wissen.
Seine schwarzen Augen schienen sie zu durchbohren, sie konnte seinem Blick nicht standhalten. Columba hielt es nicht mehr aus. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, ihre Eingeweide hatten sich zu Stein verwandelt und sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
Bis eben hatte sie erstarrt unter dem Krieger gelegen, doch jetzt holte sie panisch aus, verpasste ihm einen Schlag gegen sein Ohr und warf ihn von sich herunter. Noch bevor er nach ihr schnappen konnte, war sie vom Boden weggesprungen und flüchtete in die Finsternis des Nachthimmels.

Das Buch Fera 2 - Die nächste Generation
Das Buch Fera 3 - Die Hoffnung stirbt zuletzt

Fera III

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„Nicht so schnell! Das ist zu schnell für mich!!“, hämmerte es in Jales Kopf.
Die Lunge des Jungen brannte und ein Stechen in der Hüfte machte jeden Schritt, jeden Atemzug zur Qual. Immer wieder kam er ins Straucheln. Menschen, die in ihrer Verzweiflung nach ihm griffen, versuchten ihn mit sich zu zerren. Menschen, die in die andere Richtung liefen und nicht verstanden, was passierte. Verstand er es? Kaum. Wie lange würden sie noch laufen? Wo genau liefen sie hin? Seine Mutter war direkt vor ihm, hatte ihn an der Hand gepackt und schleifte ihn hinter sich her. Ihr blaues Kleid kam ihm immer wieder in den Weg, versperrte ihm die Sicht. Der Griff war zu fest, doch selbst wenn sie in dem Lärm seine Proteste gehört hätte, er war dankbar. Wenn er in der panischen Menschenmenge verloren ginge, hätte sie kaum eine Chance und schon gar keine Zeit ihn wieder zu finden.
Immer wieder hörte er seine Mutter den Frauen und Männern zurufen, dass sie aus der Stadt fliehen und ihre Habseligkeiten zurücklassen sollten. Jales erblickte einen Jungen in seinem Alter. Er stand völlig verängstigt mit suchenden, großen Augen in einem Hauseingang. Niemand kümmerte sich um ihn. Wo waren seine Eltern? Seine Geschwister? Warum lief er nicht so wie die anderen raus aus der Stadt, in Sicherheit. In Sicherheit? Ja, es musste außerhalb der Stadt besser sein.
Allmählich ließ die Flut an Flüchtlingen nach und seine Mutter fing an noch schneller zu laufen. Er wusste, dass sie sich immer noch zurückhielt, er hielt sie auf. Er bemerkte es am Blick ihres Leibwächters. Der Mann in schwarzem Latex und dem kurzen, roten Haar war dagegen gewesen, dass Jales mitkam. Mit einem suchenden Blick auf die Gebäude um sie herum ließ sich der Drachenkrieger zurückfallen und schnappte nach Jales. Seine Mutter ließ sofort los. Sie vertraute ihrem Leibwächter blind, niemals würde er sie betrügen oder sich ihr widersetzen. Wenn sie eine Entscheidung getroffen hatte, dann würde Serpens damit leben.
Dankbar klammerte sich Jales an der Schulterrüstung des großen Mannes fest und schlang seine Beine um dessen Hüften. Der Junge wusste sehr wohl, dass er den Leibwächter seiner Mutter nicht behindern durfte. Jales Leben war für den Drachenkrieger zweitrangig. Nur das Leben seiner Mutter zählte.
„Danke“, keuchte der schwarzhaarige Junge völlig außer Atem in Serpens langes, spitzes Ohr.
Doch der Krieger schenkte ihm nicht einmal einen kurzen Blick, sondern behielt die Umgebung im Auge. Der Leibwächter seiner Mutter war schwer einzuschätzen. Zu jedem außer seiner Mutter war der Krieger distanziert und abweisend. Selbst wenn der Drachenkrieger seine menschliche Seite nach außen kehrte, war er immer in seiner Rolle als Beschützer. So etwas wie ein Privatleben schien für ihn nicht zu existieren. Serpens lebte, um seine Mutter zu beschützen.
„Ist mit dir alles in Ordnung, Liebling?“, hörte er plötzlich seine Mutter neben ihm fragen.
Er sah in ihr Gesicht. Ihre blauen Wolfsaugen waren groß und starrten ihn besorgt an. Ihre Haut war für einen Menschen etwas zu blass und ihre Wangenknochen eine Spur zu markant. Die Nase eines Wolfes und die langen Eckzähne in ihrem Mund ließen darauf schließen, dass sie alles andere als menschlich war. Und ihr schwarzes Familiensymbol auf der Stirn, ein kleiner schwarzer Punkt mit einem schwarzen Strich nach links und rechts, verriet ihre Herkunft. Sie war ein Mitglied der Nebulas. Ein Kind des Pugnatempus. Halb Mensch, halb Wolf, verpflichtet das Leben dieses Planeten zu schützen. Der Grund, warum sie hier waren.
„Prinzessin, konzentriert Euch. Er hat nur einen Kratzer, nichts weiter“, meinte Serpens und lief weiter.
Seine Mutter schenkte ihm ein kleines Lächeln und wandte dann den Blick wieder nach vor. Was immer sie sah, gefiel ihr nicht. Jales drehte sich herum und sein Atem stockte. Bis eben hatte er nur flüchtende Menschen gesehen. Doch hier bot sich ein Anblick, den er so gar nicht kannte. Warum hatte er nicht daran gedacht? Seine Mutter hatte ihm so oft von Kämpfen berichtet. Sie hatte Opfer und Zerstörung erwähnt, aber es zu sehen, war etwas ganz anderes, als es am Abend in einem warmen Bett vor dem Einschlafen erzählt zu bekommen. Die Straße und die Gebäude um sie herum lagen in Trümmern. Autowracks wohin man sah, einige brannten.
Serpens drückte Jales Kopf unsanft zurück auf seine Schulter und zischte ihm zu, dass er die Augen geschlossen halten sollte. Die Stimme des Leibwächters klang kalt und rau, doch der Junge tat wie ihm befohlen.
Der Krieger lief weiter.
Was waren das für seltsame Formen gewesen? Die bunten Fetzen überall? Er hatte sie nicht genau erkennen können. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase und er musste husten.
„Prinzessin, was macht Ihr hier?! Im Palast wäre es für Euch und Euren Sohn sicherer!! Überlasst uns das Kämpfen!“, hörte er plötzlich die Stimme von Columba, der Vogelfrau und Anführerin des Fera-Teams der nächsten Generation über ihnen.
Jales öffnete die Augen. Die Vogelkriegerin setzte gerade mit ihrer jüngeren Schwester Angua, dem Schlangenwesen zur Landung an. Die junge Frau mit der grünen, ledrigen Haut ließ die Hand ihrer Schwester los, fiel das letzte Stück nach unten, fing sich geschickt am Boden ab und lief vor der Prinzessin her. Ihre Bewegungen waren schnell und geschmeidig, während sie über Trümmer und Wracks hinwegsprang. Ihre blutroten Augen schienen die Umgebung und jeden Schatten um sie herum nach Gefahren abzusuchen.
Seine Mutter sah Columba ausdruckslos an und meinte dann mit ihrer hellen, klaren Stimme, die keine Widerworte duldeten: „Du kennst das Ausmaß der Zerstörung. Dieser Kampf wird heute, hier und jetzt entschieden. Binnen einer Stunde haben sie beinahe das halbe Zentrum in Schutt und Asche gelegt! Wir müssen all unsere Stärke sofort gegen diesen unbekannten Feind aufbringen. … Im Gläsernen Palast wären wir nicht mehr lange sicher gewesen.“
Die letzten Worte hatte seine Mutter leiser gesprochen, als ob sie nicht für seine Ohren bestimmt waren. Aber warum sollte es im Gläsernen Palast nicht mehr sicher sein? Der Gläserne Palast wurde doch von all den Wachen beschützt, niemand kam da so einfach rein. Natürlich hatten sie keine Waffen wie das Fera-Team der nächsten Generation, aber sie hatten Schusswaffen, die mussten doch für irgendetwas gut sein. Sein Vater und seine Großeltern waren doch im Gläsernen Palast. Sie mussten dort doch sicher sein. Warum hatte seine Mutter trotz der Hektik darauf bestanden, dass er sich von ihnen verabschiedete? Er würde sie doch heute Abend wiedersehen.
Verwirrt sah sich der Junge um. Niemals konnte diese Verwüstung den Gläsernen Palast betreffen. Der Gläserne Palast musste sicher sein! Serpens sprang mit ihm über eines der Autowracks hinweg. Die Scheibe des kaputten Autos lag wie herausgerissen auf der Motorhaube und erneut entdeckte er diese bunten Fetzen, aus denen sich ein Arm ihm entgegenzustrecken schien. Ja, das waren eindeutig Finger. Jales Augen wurden groß. Was waren all diese bunten Fetzen?! Warum stank es hier so entsetzlich?!!
„Nimm du ihn!“, hörte er wie aus weiter Ferne den Leibwächter knurren und der Junge wurde durch die Luft geworfen.
Ihm wurde übel, seine Sicht von Tränen getrübt. Irgendjemand schrie.
„Schau nur mich an“, flüsterte eine liebevolle Stimme und zwei warme Hände zwangen ihn in das haarige Gesicht von einer Kriegerin zu sehen.
Er wollte die Umgebung nicht aus den Augen lassen. Wollte den bunten Fetzen nicht den Rücken zukehren. Doch die Kriegerin ließ ihm keine andere Wahl. Sie kniete vor ihm und sah ihn mit diesen ruhigen, unendlich tiefbraunen Augen an. Nicht irgend eine Kriegerin, seine Kriegerin. Tigraru war für ihn so etwas wie Serpens für seine Mutter. Zwar nicht auf Leben und Tod mit ihm verbunden, aber sie würde ihn dennoch mit ihrem Leben beschützen. Wenn sie hier war, dann war gewiss alles in Ordnung. Bei ihr war er sicher.
Der Schrei ebbte ab. Seine Kehle war trocken, keine Luft mehr in seiner Lunge übrig. Seine Augen besahen sich jede schwarze Linie in ihrem hellbraunen Fell, das ihr ganzes Gesicht und, wie er genau wusste, ihren gesamten Körper bedeckte. Doch er konzentrierte sich auf die Linien in ihrem Gesicht, eingerahmt von ihren blonden Rastazöpfen, das war sicherer. Sie strich mit ihren Fingern zärtlich über sein Gesicht und wischte etwas Feuchtes weg und seine nach vorgefallenen Haare aus seinem Gesicht.
„So ist es richtig. Schau nur mich an. Wir müssen da jetzt weiterlaufen. Wir dürfen nicht zurückbleiben. Ich möchte, dass du dich ganz fest an mir anhältst und nicht loslässt. Du wirst die Augen geschlossen halten und ganz leise sein, ja?“, fragte sie freundlich, als ob sie alle Zeit der Welt hätten.
Jales presste seine Augen fest zu, als ob er sie nie wieder öffnen wollte und streckte ihr die Arme entgegen. Als er ihre Schultern ertastete, kletterte er geschwind hoch und klammerte sich fest an sie. Er zitterte, jeder seiner Muskeln war verkrampft und schmerzte. Aber er würde nichts sagen, sich nicht beschweren. Er wollte nicht zur Last fallen. Die Tigerkriegerin ging ein, zwei Schritte, fing dann langsam an zu laufen und verfiel dann in einen schnellen, gleichmäßigen Sprint. Jales konzentrierte sich auf jeden ihrer Schritte. Fühlte, wie sie ihre Füße sicher setzte. Wusste, wann immer sie gleich zum Sprung ansetzen würde.
Stimmen wurden hörbar, Tigraru langsamer. Ob er die Augen öffnen konnte … lieber nicht.
„Danke Tigraru, gib ihn mir und dann hilf deinem Team“, hörte er seine Mutter sagen.
Jales klammerte sich sofort noch fester an seine Kriegerin und warf der schwarzhaarigen Wolfsfrau bittende Blicke zu. Sie leckte sich über die Lippen und nickte dann der Tigerkriegerin zu. Sie konnte bleiben.
Jales glitt von ihrem Rücken herunter und sah sich zögernd um. Sie befanden sich auf einem Parkdeck. Die Autos um sie herum waren unversehrt, wenn auch staubig. Ein heißer Wind wehte ihm ins Gesicht, er versuchte den Gestank zu ignorieren. Seine Mutter und ihr Leibwächter standen am Geländer und blickten mit ausdrucksloser Miene in die Ferne.
„Kann … kann ich auch schauen?“, wollte Jales im Flüsterton wissen.
Tigraru trat an das Geländer und sah sich kurz um. Ihr Blick war nicht so leer wie der seiner Mutter. Die Tigerkriegerin war eindeutig besorgt. Ihre schwarzen Lippen waren zusammengepresst, doch sie nickte.
Interessiert kletterte der Junge die kleine Mauer hoch und bemerkte Fortuna neben seiner Mutter. Die weiße Katze sah ebenfalls besorgt in das Gesicht ihrer Prinzessin. Sie war der Wächter der Wertgegenstände, ein geheiligtes Tier, das seine Mutter immer treu ergeben zu beraten versuchte. Doch im Moment sah sogar sie völlig hilflos und verängstigt aus. Vorsichtig sah sich Jales um. Nirgendwo waren diese bunten Fetzen zu sehen. Im Gegenteil. Die Verwüstung endete wenige Meter vor dem Gebäude. Ein Krater, dessen Ende er wegen der staubigen Luft nicht erblicken konnte, erstreckte sich in alle Richtungen, eingesäumt von zerstörten Gebäuden. Aus einigen loderten Flammen. Immer wieder zersprang eine Fensterscheibe. Seltsame Geräusche waren zu hören. Nein, er bildete sich das nicht ein, da waren schwarze Schatten, die sich bewegten, von Fenster zu Fenster glitten. Waren sie es auch, die die Wände einstürzen ließen? Waren sie für all das verantwortlich?
Er wusste, dass bis heute Morgen das Zentrum noch heil gewesen war. Hier musste es begonnen haben. Da, wo bis vor kurzem ein heiler Stadtteil gestanden hatte, war jetzt nur noch Sand. Als ob jemand all die Gebäude zu feinem Staub zermahlen hätte. Am Rande des Kraters erkannte er die restlichen Fera-Krieger der nächsten Generation. Columba kämpfte zusammen mit ihrer Schwester Angua Rücken an Rücken gegen diese seltsamen Schatten. Die Bärenzwillinge Ursen und Ursana standen nicht weit von ihnen entfernt und beschützten Leokiro, den Löwenmann, der gerade dem Zentauren Zentos wieder auf die Beine half. Der Zentaure hatte eine klaffende Wunde am rechten Vorderbein. Doch wollte er sich davon nicht behindern lassen. Kaum stand er wieder auf seinen Beinen, bäumte er sich in all seiner Größe auf, zog aus seinem Rückenhalfter eine seiner messerscharfen Wurfwaffen und schleuderte sie von sich weg. Zwei dieser seltsamen Schatten lösten sich augenblicklich in Luft auf.
Jales hörte auch Schüsse. Verwirrt versuchte er den Ursprung des Lärms auszumachen. Einige wenige Soldaten hatten sich hinter den letzten Trümmern der aufgesprungenen Straße versteckt und nahmen immer wieder diese seltsamen Schatten ins Visier. Aber die Schatten waren eher unbeeindruckt. Seine Mutter hatte ihm schon oft erklärt, dass die Waffen von Menschen selten Einfluss auf einen ihrer Feinde haben würden. Nun musste er die bittere Wahrheit mitansehen. Die Menschen waren wehrlos.
„Nein!“, keuchte Tigraru plötzlich neben ihm auf und für einen Moment machte sie Anstalten über die Absperrung hinwegzuspringen.
Jeder ihrer Muskeln war gespannt, ihre Augen groß und auf eine Stelle fixiert. Ein leises Knurren war tief in ihrer Kehle zu hören. Schnell wandte er sich wieder dem Kampf zu. Leokiro war zu Boden gegangen, der Löwenmann war ihr Bruder. Die Zwillinge nahmen ihn sofort in ihre Mitte, umklammerten einander und lösten eine Druckwelle aus, die alle Feinde im näheren Umkreis auslöschte.
Nun bemerkte Jales auch noch vier weitere Personen. Sie sahen menschlich aus. Doch die Art, wie sie sich bewegten, durch die Luft glitten, als ob die Schwerkraft für sie nicht zählte, machte ihm klar, dass es sich hier um den Feind handeln musste. Columba und Angua hatten den Kampf gegen zwei von ihnen aufgenommen. Zentos versuchte sich vergebens gegen einen von ihnen zu wehren. Seine Beinverletzung machte ihn zu einem leichten Opfer. Die Bärenzwillinge kauerten bei Leokiro am Boden und lösten, wann immer sich das vierte dieser Geschöpfe ihnen näherte, ihre Druckwelle aus. Damit hielten sie es auf Abstand, die Frage war nur, wie lange?
„Prinzessin?“, hörte er Fortuna leise sagen.
Seine Mutter sah mit starrem Blick auf die Kämpfe vor ihnen.
„Prinzessin?“, wiederholte die Katze besorgt.
Doch auch jetzt reagierte sie nicht auf ihren Wächter.
Serpens berührte seine Mutter an der Hand und murmelte: „Wenn wir zu lange warten, dann gibt es keine Hoffnung mehr.“
Die Wolfsprinzessin atmete tief durch und nickte dann kurz.
Fortuna schloss ihre Augen und begann sich zu konzentrieren. Verwundert beobachtete Jales das kleine Tier. Das Maul der Katze bewegte sich rasch, als ob sie etwas sagen würde. Doch es war zu leise, er konnte die genauen Worte nicht ausmachen. Musste er auch nicht. Er wusste, was hier vor sich ging, welche Entscheidung seine Mutter getroffen hatte. Er wollte etwas sagen, dagegen protestieren, das konnte unmöglich ihre einzige Hoffnung sein! Doch zwei Arme legten sich um ihn und Tigraru klammerte ihn fest an sich. Sie sah ihn wieder mit diesem ruhigen Ausdruck an, als ob alles in Ordnung wäre.
Sie strich ihm über den Kopf, so wie sie es immer tat, wenn sie glaubte, er wäre zu jung, um etwas zu verstehen und flüsterte: „Keine Angst, alles wird gut. Wir sehen uns wieder. Ich bleibe immer bei dir.“
Warum klang das so nach Abschied? Es klang nicht wie eine Lüge, obwohl es das sein musste. Aber Tigraru würde ihn niemals belügen, das hatte sie ihm versprochen. War das ebenfalls ein Versprechen? Würden sie sich wiedersehen?? Doch noch bevor er ihr das Versprechen abringen konnte, wurden ihre Augen leer und sie brach in sich zusammen. Jales hielt sie eisern fest und ging mit ihr zu Boden, sie war zu schwer für ihn. Er wusste, dass sie nicht nur bewusstlos war. Ihr Körper war leer, er konnte es fühlen. Da war kein Leben mehr in ihr. Der Junge konnte Columba aufschreien hören. Ein lang gezogener Schrei, natürlich war auch sie dagegen. Das waren nicht nur Krieger, die ihre Macht aufgaben, damit Fortuna sie auf die Mächtigste von ihnen konzentrieren konnte. Das waren ihre Freunde, ihre Familie, die da ihre Mächte und ihre Lebensenergien an sie weiterreichten. Von der Kraft der anderen gestärkt warf sich Columba in den Kampf.
„Sie wird es schaffen“, hörte er Serpens zu seiner Mutter sagen.
Warum kümmerte sich keiner um ihn? Warum half ihm niemand? Er wollte nicht, dass das alles hier passierte! Das durfte es nicht. Tigraru war seine Kriegerin, niemand durfte sie ihm einfach so wegnehmen! Er wusste, dass er weinte, aber er schämte sich nicht. Er packte Tigraru fest an den Schultern, rüttelte sie immer wieder. Der Boden bebte, Gebäude stürzten um ihn herum ein, Columbas Kampfschreie waren laut und wütend zu hören, doch all das interessierte ihn nicht. Das was hier passierte, war ungerecht! Er würde es rückgängig machen, sich nicht damit abfinden! Seine Finger verkrampften sich in Tigrarus Armen, er hatte zu schreien begonnen. Niemand schenkte ihm Beachtung. Es wurde kalt, eisig kalt.
„Columba!“, keuchte seine Mutter verzweifelt und zu Jales Entsetzen brach sie zusammen.
Serpens hatte ihr sofort unter die Arme gegriffen und hievte sie hoch. Sie wehrte seine Bemühungen ab, sie auf den Arm zu nehmen. Sie wollte nicht getragen werden.
„Wir müssen hier weg! Sofort!“, meinte der Drachenkrieger eindringlich und ließ ihr ihren Willen.
Jales sah mit großen Augen, dass ein Teil der Mauer fehlte, er hatte freie Sicht auf den Krater. Aber wie konnte das sein? Der Wächter seiner Mutter hatte ihm immer erzählt, dass, wenn man diese Macht entfesseln würde, sich all die Mächte und all die Lebensenergien aller Krieger auf einen Krieger konzentrieren würden, dieser Krieger dann unbesiegbar wäre. Wie also konnte es sein, dass Columba blutüberströmt am Boden lag, dem Ende nahe war? Einer ihrer Feinde näherte sich ihr langsam. Die Vogelfrau stellte keine Gefahr mehr dar. Sie schaffte es kaum sich auf den Bauch zu drehen. Mit letzter Kraft faltete sie ihre Hände und ein seltsames, farbloses Licht in Form einer kleinen Taube entwich ihnen. Das menschenähnliche Etwas war bei Columba angekommen und drückte sie mit seinem Schuh zu Boden. Was danach passierte, konnte er nicht sehen. Serpens hatte Jales gepackt und hochgenommen.
„Wir müssen jetzt gehen!“, wiederholte er und sah seine Prinzessin bittend an.
Doch sie starrte mit ihren großen, hellblauen Augen ungläubig hinaus auf den Kampfplatz. In ihren Armen lag die weiße Katze, ebenfalls tot.
„Es hat jetzt keinen Sinn einzugreifen. Wir müssen Informationen über unseren Feind sammeln! Alles andere wäre Wahnsinn“, zischte Serpens und seine Mutter wandte sich ab.
„Wir müssen jetzt gehen“, stimmte sie ihm abwesend zu.
Das Verhalten seiner Mutter machte ihm Angst. Noch nie hatte er sie verzweifelt oder gar ängstlich gesehen. Immer schien sie einen Ausweg zu wissen. Warum konnte sie nicht einfach … was sollte sie einfach können?
„Was hast du gemacht?“, fragte die Wolfsfrau irritiert, als sie Tigraru am Boden bemerkte.
Die Tigerfrau war von einem Hauch Eis bedeckt. Noch immer lag sie da wie tot, doch sie fühlte sich nicht mehr so an. Jales wusste, dass auch seine Mutter die Kriegerin spüren konnte.
„Unwichtig, wir müssen sofort von hier weg“, beharrte Serpens darauf.
„Der eisige Schlaf? Du beherrscht ihn? Aber selbst wenn … wie hast du …“, flüsterte sie und bückte sich zu Tigraru hinunter.
„Sie gehört mir! Wir nehmen sie auch mit! Ich kann selber laufen! Bitte, Mutter!“, rief Jales und befreite sich aus Serpens Armen.
Der Drachenkrieger wollte dagegen protestieren, aber kaum hatte die Wolfsprinzessin genickt, ließ er es bleiben und schulterte die eisigkalte Kriegerin.
Es begann zu regnen.
Nein, an dem Tag hatte es nicht geregnet.
Kalter Regen tropfte in sein Gesicht, seine Kleidung war eisig kalt.
An dem Tag war es erdrückend heiß gewesen und der Staub und der Gestank hatten das Atmen beinahe unmöglich gemacht.
Schmerzen breiteten sich aus.
Er war unverletzt.
Finsternis hüllte ihn ein.
Die Sonne stand hoch am Himmel, alles blendete ihn, während er sich so rasch wie möglich seinen Weg durch die Trümmer bahnte. Immer bedacht nur auf Serpens zu sehen, ob er Tigraru auch sicher mitnahm. Die bunten Fetzen ignorierend.
Er musste aufstehen, sie warteten auf ihn.
Niemand würde auf ihn warten, er war unbedeutend, nicht einmal in der Lage sich zu verwandeln. Wenn er zurückblieb, war das sein Tod.
Nein! Er musste aufstehen. Sie würden nach ihm suchen. Er war ihr Anführer. Er befand sich nicht mehr im Jahre 2208. Es war das Jahr 2223 und er kein kleiner, hilfloser Junge mehr.
Jales holte tief Luft und verdrängte seine Kindheitserinnerungen zusammen mit seiner Ohnmacht in eine dunkle Ecke seines Bewusstseins.

Fera IV

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Zur selben Zeit sah sich Levis skeptisch um. Hier sollte es sein? Eine einfache Berghütte sollte die berühmte Festung der Fera-Krieger sein? Besser wäre es! Er würde seinem Cousin Nox sonst die Hölle heiß machen. Es fuhren keine Skilifte mehr und er hatte sich bis ganz nach oben durch dieses irrsinnige Schneegestöber kämpfen müssen. Er war nass, sein dicker, schwarzer Mantel steif und ein jeder seiner Muskeln schmerzte. Etwas Gutes hatte der herumwirbelnde Schnee ja, niemand würde seinen Spuren folgen können. … Vorausgesetzt er schaffte es das Geheimversteck wieder zu verlassen.
Doch Nox war zuversichtlich gewesen. Der jüngere Vampir hatte sich für Tage mit einem starken Getränk vollgepumpt, das zwar widerlich roch, aber auch den Ort von gesuchten Dingen preisgab. Nachteil an dem Gebräu: Es schwächte den Vampir bis aufs Äußerste und es würden noch Tage vergehen, bevor er wieder im vollen Besitz seiner Kräfte war.
Aber das machte ja nichts. Warum auch? Man konnte ja Levis hinaus in die kalte Welt schicken. Mitten hinein in das Nest des Feindes. War doch egal, dass er mit Abstand der Schwächste im Clan war. … Noch gehörte er nicht zu dem Clan der Dignus. Er war zwar der Enkel des Clan-Führers, aber seine Eltern hatten sich vor vielen Jahren abgewandt. Die kleine Familie hatte eigentlich ein ganz ein nettes, abgeschiedenes Leben geführt. Doch seine Eltern waren vor zwei Jahren ums Leben gekommen, wenn er mit seinen 23 Jahren nicht alleine durch die Welt stolpern wollte, musste er es schaffen die Gunst seines Großvaters zurückzuerlangen. … Noch war er entbehrlich. Aber wenn er sich heute Nacht nicht zu blöd anstellte, dann würde ihn das sicherlich seinem Ziel, ein Dignus zu werden, näher bringen.
Der schwarzhaarige Vampir rieb sich frierend die Hände und sah tief ausatmend zu der Berghütte hinüber. Es brannte immer noch Licht, das störte ihn. Es war doch mitten in der Nacht! Aber er konnte nicht noch länger warten. Die Sonne würde in zwei Stunden aufgehen. Die Morgendämmerung war gefährlich. Der Schnee würde das Licht reflektieren, kein Schatten würde ihn retten können. Wenn er den Jungen wollte, dann jetzt.

„Wirst du jetzt doch nervös?“, fragte Viktor leise.
Die Lippen seiner Tochter waren schmal geworden und ihr Blick schien sich im Muster des weichen Teppichs verloren zu haben.
„Irgendetwas stimmt nicht“, murmelte sie und ging sogar so weit sich ihr seidenes Kleid zurechtzustreifen.
Ihr Vater hob erstaunt die Augenbrauen. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal derartig verwirrt gewesen war. Für gewöhnlich bemerkte man es nicht, wenn sie etwas sorgte.
Plötzlich klirrten Scherben im oberen Stockwerk. Christins Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen und ihre Hände zu Fäusten. Aber sie blieb unverwandelt. Ihre Identität war zu wertvoll, um sie wegen eines Geräusches zu riskieren. Warum hatten sie sich auch für eine Berghütte mit riesigen Fenstern entschieden? Die halbe Welt konnte sie problemlos beobachten!!
Aber ihre Cousine Anschela war aus ihrem Schlaf auf der Couch hochgeschreckt und in der nächsten Sekunde lief sie dicht gefolgt von ihrem Mann Jack die Treppe hoch. Viktor war hin und hergerissen. Er wollte auch hoch. Doch sollte es sich tatsächlich um einen offenen Angriff der Agenten handeln, dann würde er da oben nichts ausrichten können. Er war zu alt geworden, nur noch sein Wissen war von Wert. Sein Platz war an Christins Seite.
Anschela schrie hysterisch auf und Jack begann zu fluchen.
Viktor folgte Christin hoch in den ersten Stock. Es war nun klar, dass es nicht zum Kampf kommen würde. Am liebsten hätte er seine Tochter zur Seite gestoßen, um sich an ihr vorbeizudrängen. Musste sie so langsam gehen?
Sie blieben in der Tür zu Mathias Zimmer stehen. Kalter Wind blies durch das zerbrochene Fenster herein und zerrte am Vorhang. Scherben lagen am Boden verteilt. Anschela saß mit großen Augen am Boden und starrte hinaus in die Finsternis. Viktor war sofort bei ihr und nahm sie ohne nachzudenken in den Arm. Er wusste, dass es seiner Tochter nicht recht war. Ihm war klar, in welche Gefahr er sich womöglich begab. Mathias war weg, wohl entführt worden. Anschelas Atem ging schnell und ihre Muskeln waren verkrampft. Sie war am Kippen. Die Prinzessin der Winde würde diese Situation ausnutzen, Anschela war innerlich verletzt. Wenn die Prinzessin der Winde es schaffte zu erwachen, würde es ein Blutbad geben. Aber das hier war Anschela. Sie musste nur lange genug sie selbst bleiben. Wenn ihr Mann den Jungen zurückbrachte, dann würde alles wieder in Ordnung sein.
„Sie haben ihn mir weggenommen. … Wie können sie nur?? Viktor, er ist doch nur ein kleiner Junge!“, keuchte sie und begann zu zittern.
Ja, sie war wütend. Sie wollte sich ihrer Verzweiflung nicht hingeben, aber genauso wenig durfte sie ihrem Zorn nachgeben.
„Ich bitte dich“, versuchte der schwarzhaarige Mann sie ruhig zu stimmen, „wie weit werden sie kommen? Die Agenten sind nervig, aber nur Menschen. Menschen in schwarzen Kostümen, mehr nicht. Was können sie schon von einem kleinen Jungen wollen? Ich meine, er weiß ja noch nicht einmal selbst, dass er sich verwandeln kann.“
„Ja … warum haben sie ihn mitgenommen?“, grübelte Christin laut nach und trat ans Fenster.
Viktor zuckte mit den Schultern und murmelte: „Vielleicht wollten sie nur herausfinden, ob die Stabschefin selbst hier am Berg von Kriegern beschützt wird.“
Anschela holte zitternd Luft und fauchte: „Dazu haben sie verdammt noch einmal kein Recht! Serpens wird …“
Viktor drückte sie nur noch fester an sich und strich ihr beruhigend über den Kopf. Er wollte diese Worte nicht aus ihrem Mund hören. Sie war bei Sinnen, ganz gewiss. Das war nur ganz normale Wut, die da aus ihr sprach. Ohh … diese dummen Kinder! Diese Agenten wussten nicht, mit wem sie sich anlegten. Sollte Anschela sich selbst in ihrer Wut verlieren, dann würde ihr Rachefeldzug gegen diese kindische Organisation blutig enden.
„Ich schicke Vanessa und Manuel hinterher … Angua ist auf halbem Weg nach oben. Sie wird ebenfalls helfen“, meinte Christin und verließ das Zimmer, um ihre beiden Krieger zu wecken.

Serpens war völlig außer Atem. Die Kälte setzte ihm zu. Er war nicht hierfür geschaffen. Feuer und Hitze konnten ihm kaum etwas anhaben. Aber diese eisige Kälte raubte ihm den Atem. Der Schnee nahm ihm die Sicht. Er fühlte sich schnell desorientiert und hilflos.
Sein Sohn! Wie konnten sie es wagen ihm seinen Sohn zu nehmen?! … Woher wussten sie es? Was bezweckten sie damit? … Wie weit würden sie gehen?
Verzweifelt stolperte er über die Pisten. Zu Beginn war er einer deutlichen Spur gefolgt, aber mittlerweile hatte er sie in dem dichten Schneegestöber verloren. Das hatte so keinen Sinn. Er konnte niemanden hier verfolgen. Er musste alles anders machen. Nachdenken! … Wo würden sie ihn hinbringen? Gab es hier in der Nähe einen ihrer Stützpunkte? Sie hatten bereits drei ausfindig gemacht. Zwei waren im Panjoa-Zentrum und eines im Trimium-Zentrum. Aber gab es hier eines? Sie waren hier im Sichale-Zentrum, knapp an der österreichischen Grenze. Wenn es hier einen Stützpunkt gab, dann kannte er ihn nicht.
Serpens hob den Kopf und strich sich sein langes, rotes Haar nach hinten. Seine Lungen schmerzten, Sauerstoff schien knapp zu werden. Der eisige Wind bließ sein hüftlanges Haar nach allen Seiten. Winzige Eiskristalle kratzten über seine dunkle Haut. Es war nur Schnee … aber es fühlte sich wie hunderte feine Nadelstiche an.
Stockend holte er Luft. … Er musste keinen Stützpunkt hier in der Nähe kennen. Es reichte völlig aus, wenn er irgendeinen kannte. Ohne noch eine weitere Sekunde zu vergeuden, gab er es auf im Schneegestöber die Verfolgung aufzunehmen. Er lief so schnell ihn seine Beine trugen hinunter ins Tal, verwandelte sich am Bahnhof zurück und stieg in den nächsten Schnellzug ein.
Die folgenden 20 Minuten vergingen unerträglich langsam. Jack hatte sich in ein kleines Abteil gesetzt, um den Blicken anderer Passagiere aus dem Weg zu gehen. Je weniger ihn sahen, desto besser. Doch mittlerweile bereute er seine Entscheidung. Er brauchte Platz. Die Wände schienen ihn einzuengen. Die völlig überhitzte Luft war stickig und das an seinem vorbeiziehenden Fenster hereinleuchtende Licht machte ihn wahnsinnig.
Als der Zug endlich stehenblieb, hechtete Jack quer über den Bahnhof. Kaum hatte er das Gefühl unbeobachtet zu sein, verwandelte er sich erneut in Serpens und dann hielt ihn nichts mehr zurück.
Sein Ziel war ein mit Stacheldrahtzaun abgesperrtes Gebiet. Angeblich gehörte es dem Militär, aber Viktor hatte sich schlau gemacht, dieses Grundstück tauchte nirgendwo in den Papieren auf. Christin nahm an, dass irgendwer mit Geld geschmiert wurde. Aber sie hatten nichts dagegen unternommen. Es war von Vorteil zu wissen, wo sich ein potenzieller Feind aufhielt. Wenn sie ihn vergraulten, würde er nur an einem anderen Ort seine Zelte aufschlagen.
Serpens rief nach seinem Schwert, zerfetzte den Maschendrahtzaun und stürmte auf das Gelände. Seine an die Finsternis gewöhnten Augen erfassten sofort eine weibliche Person. Sie schien gerade mit irgendjemandem so laut sie konnte zu schimpfen. Mit wem, konnte er nicht sagen. Egal, sie war abgelenkt.
Der Drachenkrieger stürmte auf sie zu, packte sie und während er sie mit sich nach draußen durch das Loch im Zaun schleifte, entwaffnete er sie. Zumindest wehrte sie sich nicht großartig. Er bemerkte ihre panischen Blicke. Gut, sie hatte Angst. Das würde es ihm erleichtern an Antworten zu kommen.
Er blieb erst mit seiner Geisel stehen, als er bei einem kleinen zugefrorenen Teich ankam. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Ohne zu zögern, trat er das dicke Eis ein und drückte die Frau komplett unter Wasser. Er hatte nicht viel Zeit. Bestimmt waren ihm andere Agenten auf den Fersen. Er sollte ruhig bleiben, sie musste bereit sein ihm zu antworten.
Als er bis 15 gezählt hatte, zerrte er sie an den Haaren wieder an die Oberfläche. Sie rang gierig nach Luft und versuchte aus dem Wasser zu klettern. Er hielt sie erbarmungslos im Wasser fest.
Erst, als sie ihn mit ihren dunkelblauen Augen panisch anstarrte, knurrte er bedrohlich: „Meinen Sohn. Jetzt!“
Sie sah ihn völlig verwirrt an. Gut, sollte sie doch unter Wasser weiter nachdenken. Er tauchte sie erneut unter. Dieses Mal länger. Er gab ihr ein paar Sekunden, um Luft zu holen, dann starrte er sie erneut mit seinen pechschwarzen Augen an. Er wusste, dass seine vollkommen schwarzen Augen vielen Menschen Angst machten.
„Mein Sohn wurde heute entführt. Wenn ich ihn nicht sofort wieder bekomme, bin ich euer kleinstes Problem!“, knurrte er und zog sie ein Stück an sich heran.
Sie war starr vor Schreck. Ihr langes, blondes Haar klebte an ihrem blassen Gesicht. Ihre Lippen waren blau und sie holte kaum noch Luft. Wenn sie in Ohnmacht fiel, war alles umsonst gewesen.
„Ich … ich weiß nichts von einer Entführung“, keuchte sie, als er sie unsanft am Kragen zu schütteln begann.
„Frag deine Freunde“, fauchte er aufgebracht und zerrte sie ganz aus dem Wasser.
Er ließ sie los und die Frau fiel in den Schnee. Sie starrte ihn von unten mit großen Augen an. Er hatte kein Mitleid für sie über. Seit zwei Jahren fielen ihnen die Agenten immer wieder ungut auf. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie ein ernstzunehmendes Problem darstellten. Sie hatten die Krieger lange genug gereizt, jetzt mussten sie mit den Konsequenzen leben.
Ihre Hand zitterte, als sie in einer ihrer Taschen der weiten Hose griff und ein Handy herauszog. Mist! … Wenn es durch das eisige Wasser kaputt geworden war … Nein, es läutete.
Er schenkte ihr ein kaltes Lächeln und hockte sich neben sie. Sie würde es nicht wagen, etwas Falsches zu sagen.
„Poison, was gibts?“, hörte er eine weibliche Stimme gelangweilt fragen.
Tatsächlich brauchte seine Geisel zwei Anläufe, bevor sie ein Wort herausbekam.
„I … ch … Ich muss wissen … wurde heute ein Kind entführt?“, presste die Frau vor ihm bebend heraus.
„Ein Kind? Wozu? … Ich schau einmal nach. … Mhh… Nein. Zumindest nicht geplant. Eve beschattet ein Stabsmitglied, der hat Familie. Aber es ist keine Entführung angeordnet worden“, murmelte die unbekannte Frau.
„Schau bitte gründlich!!“, donnerte die blonde Frau zu seinen Füßen.
„Poison, alles in Ordnung?“, fragte die Person am anderen Ende der Leitung.
„Nein! … Nein. Ich …“, wimmerte sie und sah Serpens Hilfe suchend an.
Er nickte, sollte sie ihre Lage doch ruhig schildern.
„Der eine rothaarige Krieger, er hat mich verschleppt. Er sagt, dass sein Sohn eben entführt worden ist. Er will ihn wieder haben. … Bitte, schau noch einmal nach!“, flehte die Agentin.
„Ist er bei dir? … Ach du meine Güte! … Poison, es tut mir leid, ich habe hier wirklich keine Informationen zu einer Entführung. Nichts, das auch nur annähernd passen würde!“, keuchte die Fremde aufgeregt.
Serpens musste sich zusammenreißen. Er wollte zurück zum Stützpunkt und dort alles kurz und klein schlagen. Er wollte die Agentin mit sich nehmen und als Druckmittel für weitere Informationen benutzen. … Es gab nur ein Problem. Er glaubte ihr.
Er stand auf, drehte ihr den Rücken zu und ging. Er kam nicht weit, bevor er auf heraneilende Agenten stieß. Sie hatten wohl ihr Handysignal geortet. Er blieb einfach zwischen den Bäumen still stehen und verharrte regungslos. Sie liefen praktisch an ihm vorbei, ohne ihn zu sehen. Menschen waren so blind, wenn sie dachten zu wissen, wo der Feind zu sein hatte.

Das Buch Fera 4 - Die vierte Art
Das Buch Fera 5 - Das kalte Grab

Fera V

Leseprobe

Wehmütig holte Leokiro tief Luft. Es war lange her, dass er eine Vision empfangen hatte. Demnach stand ihnen erneut ein Kampf bevor. Waren ihnen nicht einmal zwei Jahre Frieden gegönnt?
Für einen Moment flackerte das Gesicht eines lachenden Mädchens in seinem Kopf auf. … Ja, das war es, was ihn jetzt eigentlich interessierte. Er war fast 18 und die Sommerferien hatten vor einer Woche begonnen. Er hatte vorgehabt sie noch einmal anzusprechen. Vielleicht würde sie ihre Meinung ändern und doch noch mit ihm ausgehen. … Nein. Dafür war jetzt keine Zeit mehr. Vielleicht nach den Kämpfen. Sie konnten ja nicht ewig andauern. Oder vielleicht ging sich eine kleine Romanze noch vor den Kämpfen aus??
Die Vision jedoch zerschmetterte diesen kleinen Hoffnungsschimmer sofort. In einer Ecke saß Christin. Ihr glänzendes schwarzes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr bis zur Hüfte reichte. Eine jede ihrer Haarsträhnen saß perfekt. Ihre Kleidung immer professionell. Als Stabschefin erlaubte sie sich genauso wenige Fehler wie als Prinzessin. Ihr Gesichtsausdruck leer, so wie immer, wenn sie niemandem Gefühle vorspielte. Wenn sie lächelte, war sie wunderschön. Eine 20-jährige Frau in der Blüte ihres Lebens. Aber jeder, der sie wirklich kannte, wusste, dass keines ihrer Lächeln echt war. Sie sah keinen Tag älter aus, als er sie zuletzt gesehen hatte. Die Kämpfe würden bald beginnen.
Leokiro sah sich genauer um. Es war wichtig, dass er so viele Informationen wie möglich in Erinnerung behielt. Der Löwenkrieger befand sich anscheinend in Christins Schlafzimmer im Gläsernen Palast. Die schweren Vorhänge waren zugezogen und niemand außer ihr befand sich im Raum. Was wollte ihm die Natur hier zeigen? Plötzlich sackte Christins Kopf nach vorne und sie fing hemmungslos zu weinen an. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Armen und begann zu schluchzen. Leokiro riss seine Augen weit auf. Christin weinte? Ja, sie konnte weinen, wenn sie es beabsichtigte, um menschlich zu erscheinen. Aber hier war niemand, dem sie die Tränen vorspielen konnte. Konnte es sein, dass sie wirklich weinte? Was musste passieren, um von Christin eine derartige Gefühlsregung zu erhalten?! Die Familie der Nebulas war nicht fähig zu fühlen!
Bevor Leokiro sich weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, veränderte sich alles um ihn herum. Er befand sich auf einem Gang des Gläsernen Palastes, vor den Besprechungszimmern. Christin, ihr Sicherheitsberater und zwei Stabsmitglieder standen beieinander. Beide redeten eindringlich auf die Stabschefin ein, sie waren sich nicht einer Meinung und erwarteten ganz offensichtlich, dass Christin ein Machtwort sprach und eine Entscheidung traf. Aber die junge Stabschefin stand mit dem Rücken an der Wand und brachte kein Wort heraus.
Der Löwenkrieger presste die Lippen aneinander. Was musste passieren, dass Christin derart handlungsunfähig wurde?
Das Bild vor seinen Augen verschwamm erneut und er fand sich in einem der Gästezimmer des Gläsernen Palastes wieder. Zu seiner Erleichterung sah er Christin in der Tür stehen und dieses Mal sah sie alles andere als verunsichert aus. Sie lächelte breit und siegessicher. Wie sie dastand, wie sie ihren Kopf stolz hielt! Das war eine Prinzessin, wie sie die Welt brauchte!
„Das kannst du vergessen“, brummte eine bekannte Stimme hinter ihm.
Leokiro drehte sich um und starrte einem schlecht gelaunten Dean ins Gesicht. Er wühlte in einem Koffer mit Kleidung herum. War er dabei aus- oder einzupacken? Schwer zu sagen, in einem derart unordentlichen Zimmer.
Dem Löwenkrieger wurde kurz schwindlig, als Christin direkt durch ihn hindurchging und sich vor Dean stellte. Der Amerikaner beachtete sie jedoch kaum und durchwühlte weiterhin seinen Koffer.
„Ich werde alles tun, was du möchtest. Vergiss sie“, flüsterte die schwarzhaarige Frau und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
Leokiro rümpfte die Nase. Was sollte das jetzt? Lief Christin diesem Frauenheld etwa hinterher? Ja, Dean war ein toller Kumpel und ein ausgezeichneter Kampfsportler. Aber die Frauen lagen ihm zu Füßen und er flirtete mit allem, was einen Rock trug. Das war gewiss nicht die richtige Wahl für eine Stabschefin, ganz zu schweigen für eine Nebula Prinzessin! Zu seinem Entsetzen verwandelte sich Christin in Prinzessin Nebula Lupa und ließ sich langsam neben dem Koffer auf das Bett sinken.
„Wer ist interessanter?“, fragte die Wolfsfrau im Flüsterton und strich sich ihr langes, schwarzes Haar aus dem nur noch zum Teil menschlichen Gesicht.
Ihre Augen waren nun nicht mehr dunkles Rehbraun, sondern strahlend blau und besaßen eine unergründliche Tiefe. Ihre markanten Wangenknochen, die schwarze Wolfsnase, die hohe Stirn und vor allem die spitzen Ohren sagten nur zu deutlich, dass sie kein menschliches Wesen war. Die Kleidung an ihrem Körper war aus feinster, blauer Seide und nicht durch Menschenhand geschaffen. Nirgendwo war eine Naht zu sehen und der Stoff saß zu perfekt. Ja, dieses Wesen war wunderschön und faszinierte die Menschen. Aber Dean war wohl der Einzige, der bei ihrem Anblick auf andere Gedanken kam.
Doch zu seiner Überraschung stimmte das Angebot den Amerikaner nicht milde. Ganz im Gegenteil! Der junge Mann packte den Koffer und warf ihn nach ihr. Er begann in seiner Muttersprache zu schimpfen und zu fluchen und stürmte dann aus dem Zimmer.
Verdattert fand sich Leokiro bereits in der nächsten Vision. Christin lehnte an der Wand ihres Wohnzimmers im Gläsernen Palast und starrte hinaus in den verregneten Garten. Ihr Vater Viktor stand bei ihr und redete eindringlich mit ihr. Der große Mann sah besorgt aus, seine Stirn lag in Falten und immer wieder strich er sich durch sein schwarzes Haar, das erste Anzeichen von hellem Grau zeigte. Leokiro konnte die genauen Worte nicht ausmachen, aber sie konnten nicht so wichtig sein, denn die schwarzhaarige Frau schenkte ihnen keine Beachtung. Keine Regung in ihrem Gesicht. … Das war so gar nicht Christin, wie er sie kannte. Niemals hätte sie ihren Vater ignoriert! Viktor hatte immer ausgezeichnete Einfälle und verstand etwas von Strategie.
Von einem Moment auf den nächsten wandte sich Christin von dem großen Fenster ab und schlug Viktor ins Gesicht. Der Schlag an sich konnte dem gestandenen Mann nicht wirklich weh getan haben, aber in seinen dunklen Augen spiegelte sich der Schmerz.
Als ob es nicht noch schlimmer kommen könnte, hörte Leokiro seine verehrte Prinzessin im kühlen Tonfall sagen: „Was kümmert mich die Menschheit? Wenn Dean mich nicht mehr will … dann kann er mit der Menschheit auch zu Grunde gehen.“
Der Fera-Krieger stand mitten in der Stadt. Der Himmel war wolkenlos und die strahlende Sonne blendete ihn fürchterlich. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum schickte ihn die Natur von einem Ort zum nächsten? Warum zeigte sie ihm all diese verwirrenden kurzen Szenen? Warum konnte sie ihm nicht die Zeit lassen, die er gebraucht hätte, um zumindest eine dieser Visionen zu verstehen? Aber nein, er wurde bereits in die nächste Vision gestoßen! Leokiro kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren. Er erkannte, dass er sich an einem Kampfplatz befand. Alle Krieger waren um ihn versammelt. Den Feind konnte er nicht ausmachen. Allerdings fielen ihm gewaltige Wasserpfützen am Asphalt auf. Und zwischen zwei zertrümmerten Autos konnte er … war das ein Opfer?! Ein fleischiges Etwas lag in einer gewaltigen Blutlacke. … Da war eindeutig eine Hand zu erkennen … aber auch … waren das Schuppen?
„Was sollen wir tun?!!“, knurrte Ursana aufgebracht.
Leokiro schenkte dem bizarren Opfer noch einen Moment seiner Aufmerksamkeit und sah dann hinüber zu der Bärenkriegerin, die vor Prinzessin Nebula Lupa stand. Die Fera-Kriegerin stampfte aufgebracht mit dem Fuß auf. Ihre hellbraune, ledrige Kampfkleidung wirkte mitgenommen, der Rock aus weichem Leder hing nur noch in Fetzen an ihr herunter. Eine blutige Wunde an ihrer Wange sah furchtbar aus. Die Schmerzen mussten entsetzlich sein.
„Sollen wir hinterher?“, verlangte Angua angespannt zu wissen.
Die Anführerin des Fera-Teams sah jedoch nicht viel besser als Ursana selbst aus. Ihre grün-schwarze Hose war zerschlissen und blutgetränkt. Die glatte, grüne Haut war zerschunden und ihr linkes Auge war zugeschwollen. Lupa starrte die Schlangenkriegerin mit großen Augen an und machte einen Schritt rückwärts. Die Wolfsprinzessin sah völlig überfordert aus!! Dabei war sie die Einzige von all den Kriegern, die noch nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte!
Ursen brach zusammen und wurde von seiner Zwillingsschwester Ursana auf den Rücken von Zentos verlegt. War das eine eisige Wunde an seiner Brust? Waren erneut Vampire ihre Feinde? Hatte Nox sie hintergangen?!!
„Soll ich ihn zum Licht allen Anfangs bringen? Tigraru kann diese Wunden nicht heilen!“, murmelte der Zentaure, aber auch er erhielt keine Antwort von Prinzessin Nebula Lupa.
Sie stotterte nur herum. … Sie wirkte so furchtbar fehl am Platz!
„Lasst sie. Sie ist keine Hilfe. Ich übernehme das Kommando. Zentos und Ursana, ihr bringt Ursen in den Schuppen. Dich Lupa, will ich hier nicht mehr sehen! Der Rest folgt mir!!“, erklärte ein unbekannter Krieger.
Der Fremde trug eine dunkle lederne Rüstung und ein langes Schwert am Rücken. Sein pechschwarzes Haar war zerzaust, doch seine spitzen Ohren waren zu sehen.
Zu Leokiros Entsetzen zögerte das Team nicht eine Sekunde und befolgte die Anweisungen.
Lupa blieb zurück. Alleine … verängstigt … absolut fehl am Platz.

Fera VI

Leseprobe

Zur selben Zeit saß Devid mit Tigraru und den Bärenzwillingen bei Jan im Wohnzimmer. Columba, Serpens und Zentos behielten die unmittelbare Umgebung des Grundstücks im Auge. Wobei niemand damit rechnete, dass Kiri oder einer der Vampire zum Haus kommen würde, solange die Sonne am Himmel stand.
„Was werdet ihr tun, wenn Kiri hierherkommt?“, fragte Jan und strich sich ihr rotes, langes Haar nach hinten.
Die ansonsten so hübsche und elegante Frau wirkte an diesem Tag blass und um Jahre gealtert. Ihr Rücken war krumm und ihre Augen hoffnungslos. … Sie hatte ihre Tochter längst aufgegeben.
„Wir werden sie von dem Clan trennen“, meinte Ursana kurz.
„Lupa hat noch nicht genau gesagt, was dann zu tun ist. Sie will zuerst mit den Vampiren reden“, verbesserte Tigraru das Bärenmädchen.
„Und was soll dabei, eurer Meinung nach, rauskommen? Was denkt ihr, was der Clan tun wird? Sich entschuldigen und heimgehen?“, knurrte Devid angespannt.
Alle im Raum sahen ihn an und Shang fragte leise: „Was denkst du, was passieren wird?“
Der junge Vampir in menschlicher Gestalt verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Wand. Er überlegte einen Moment lang und brummte dann leise: „Ihr versteht etwas Grundsätzliches nicht. Das ist euer Problem. Wer auch immer sie gebissen hat und so zu seiner zukünftigen Frau auserwählt hat … der liebt sie. Und mit Liebe meine ich jetzt nicht so etwas wie bei euch Menschen, wo man es einmal ausprobiert und dann erst entscheidet, ob das eine Zukunft hat oder ob man es doch besser wieder sein lässt. Die beiden kennen sich wahrscheinlich erst seit wenigen Stunden, aber für beide ist gewiss, dass sie den Rest ihres Lebens gemeinsam verbringen wollen. Da gibt es kein Wenn und kein Aber!“
„Das ist doch Unsinn. Kiri ist 14 Jahre alt. Sie hat keinen blassen Dunst von der Liebe“, meinte Jin entschieden.
Der Zwillingsbruder von Jan legte seiner Schwester eine Hand auf die Schulter und versuchte, ihr Mut zu machen. Aber Devid schnaubte nur verächtlich und wandte den Blick ab. Das war das Problem. Menschen verstanden nicht, was es bedeutete, wirklich verliebt zu sein.
„Du verstehst aber auch, dass wir Kiri nicht einfach tun und machen lassen können, was sie will“, meinte Tigraru und reckte sich, um die angespannten Muskeln zu lockern.
„Es ist nicht so, als ob sie bestimmt hätte, wer sie beißt. Sie war hier das Opfer … schon vergessen?“, murmelte Devid und fühlte, dass ihm jeden Moment der Geduldsfaden reißen würde.
Wie konnte man nur so starrköpfig sein?! Alle miteinander! Wo war seine Erwählte, wenn er sie brauchte?! Angua würde bestimmt mehr von alldem verstehen und ihr Team zurechtweisen!
„Du denkst, dass es Zufall war? Ich bitte dich. Dass Kiri ständig zufällig in die Kämpfe hineinstolpert, das glaube ich nicht. Wir wissen, dass sie eine furchtbar finstere Zukunftsprognose hat. In einer Zukunftsvariante, die wir hoffentlich verhindert haben, war sie praktisch die rechte Hand von Königin Afro und hat als Teck gefoltert und gemordet“, erinnerte Ursana und stellte sich neben Ursen, wahrscheinlich, um von ihrem Zwillingsbruder Unterstützung zu erhalten.
„Da war sie aber eine Schattenkriegerin und soweit ich weiß, ist kein Schattenkrieger er selbst. Aus dem liebsten Geschöpf … könnte man eine reißende Bestie machen“, murmelte Devid und versuchte, das Bild seiner kleinen Schwester aus seinen Gedanken zu verbannen.
Sie war durch die Hand von Teck gestorben. Lupa hatte ihnen damals geraten, den Leichnam von Aurora zu verbrennen, da sie sonst wiederkommen würde. Aber sein Großvater hatte einfach angenommen, dass er den Vorgang rückgängig machen könnte. Er hatte geglaubt, Aurora kontrollieren zu können. Aber von dem fröhlichen, sanftmütigen Vampirmädchen war nichts übrig geblieben. Sie war eine Bestie ohne jeden Verstand gewesen und hatte versucht, alles um sich herum zu töten.
„Ich stimme euch zu, etwas wie Teck darf es nie wieder geben. Aber Kiri ist nur ein Vampir und wenn ihr sie dem Clan wegnehmt, bedeutet das unweigerlich Krieg“, versuchte der braunhaarige Junge den anderen zu erklären.
Tigraru spitzte ihre schwarzen, dünnen Lippen und fragte dann vorsichtig: „Was bedeutet das für uns bestenfalls?“
„Bestenfalls? … Wenn ihr Glück habt, dann wurde sie von einem Einzelgänger wie Levis es war, bevor er zu unserem Clan zurückkehrte, gebissen. Ein Vampir ohne Clan. Ohne Schutz. Ohne Macht. In dem Fall könntet ihr die beiden wohl einfach töten“, knurrte er mit unterdrückter Wut.
„Töten?“, keuchte Jan entsetzt.
„Töten ist übertrieben. Wir wollen niemanden töten und das weißt du! Wenn wir jemanden beseitigen, dann weil es keinen anderen Ausweg gibt. Wir töten niemanden, weil es der leichtere Weg ist. … Ich nehme an, wenn sie von einem Einzelgänger gebissen wurde und ohne jede Macht und ohne Clan dasteht … könnten wir das ignorieren. Wir würden zu den beiden ein Band wie zu dir und Levis aufbauen und sie so im Auge behalten“, murmelte Tigraru schnell, um Jan zu beruhigen.
Devid tat es leid, dass er die Situation so auf die Spitze getrieben hatte. Er stand unter enormem Druck. Er nahm es persönlich, wenn einem Vampirclan ein neues Mitglied entrissen werden sollte, nur weil die Krieger davon ausgingen, alles zu wissen. Genau aus dem Grund hatte Levis seine Chance auf ein gemeinsames Leben mit Alisha als Vampir verspielt!
„Korrigiert mich, aber wir wissen bereits, dass der Vampir kein Einzelgänger ist. Da waren mindestens zwei weitere, die ihm den Rücken freigehalten haben“, gab Ursen zu bedenken.
Devid schenkte dem breitschultrigen, muskulösen Bärenkrieger einen langen Blick. Was der große Fera-Krieger da von sich gab, mochte ihm nicht gefallen, entsprach aber der Wahrheit.
„Also, was könnte uns schlimmstenfalls blühen?“, verlangte Tigraru zu wissen und zog ihre dünnen Beine wie eine Katze an sich, um so auf einem kleinen Stuhl Platz zu finden.
Devid leckte sich über seine trockenen Lippen und murmelte nach einigen Sekunden: „Das Schlimmste wäre wohl, wenn wir es mit dem Vetus- oder dem Astutus-Clan zu tun bekämen. Die beiden Clans sind so mächtig, wie der meinige es war. Was aber nicht bedeuten soll, dass der Clanführer so verrückt ist, wie es mein Großvater war! … Trotzdem, wenn ihr einem derart mächtigen Clan die Stirn bieten wollt, dann könnt ihr euch auf Verluste einstellen, sobald ihnen klar wird, dass sie Kiri nicht als Tochter behalten können.“

Das Buch Fera 6 - Zum Scheitern verurteilt